Biodiversität als Versicherung für die Zukunft
- Je mehr Arten wir verlieren, umso geringer ist das Potential, dass bei veränderten Bedingungen eine geeignete Art einspringen kann.
- Umgekehrt stellt Artenvielfalt eine Art Zukunftsversicherung dar.
- Die Vielfalt des Lebens ist gewissermaßen Teil einer „Solidargemeinschaft“, die in Schadensfällen eintreten kann, die durch Klimawandel, Parasiten oder Ackergifte verursacht wurden.
- Dieser Eintritt erfolgt auch zum Nutzen des Menschen.
- Der Mensch muss sein Verhältnis der Natur ändern, wenn er diese Versicherung künftig noch in Anspruch nehmen möchte.
Sehr geehrter Herr Professor Settele, Sie empfehlen die „Aufrechterhaltung der genetischen Vielfalt der Bienen“ (Settele, 2019, S. 301)? Warum ist diese genetische Vielfalt so wichtig?
Josef Settele: Zunächst: Die Empfehlung zur Aufrechterhaltung der genetischen Vielfalt ist nicht nur meine, sondern eine, die aus dem Bestäubungs-Assessment des IPBES resultiert. In der genetischen Vielfalt liegt das Evolutionspotential der Arten. Es reduziert das Aussterberisiko einer Art, da es innerhalb einer Art immer auch Individuen gibt, die mit Veränderungen der Rahmenbedingungen, wie z.B. dem Klimawandel, besser zurechtkommen als der Durchschnitt aller Populationen einer Art.
Im Prinzip gilt das dann genauso auf der Ebene der Arten. Je mehr Arten einer Gruppe wir haben, umso höher ist die Chance, dass eine für die andere unter veränderten Bedingungen einspringen kann. Das ist beispielsweise wichtig bei der Betrachtung der Bienenarten jenseits der Honigbiene. Die Honigbiene ist bei uns ja nur eine von hunderten verschiedener Bienenarten. Während es der Honigbiene recht gut geht – das ist für ein Nutztier auch nicht so überraschend –, also ihre Bestände nicht gefährdet sind, ist die Lage bei den Wildbienen wesentlich kritischer. Etwa die Hälfte der Wildbienenarten ist im Rückgang begriffen und somit gefährdet. Je mehr Arten wir verlieren, umso geringer ist das Potential, dass bei veränderten Bedingungen eine geeignete Art einspringen kann. Dies ist bei praktisch allen Ökosystemleistungen relevant, ist aber bei der Bestäubung besonders offensichtlich.
Wir betrachten Natur häufig entweder als nachwachsende Ressource, die sich beliebig ausbeuten und technisch beherrschen lässt, oder aber als eine vom Menschen unberührte Wildnis. Mit der vorhergehenden Antwort bringen Sie implizit eine neue Sichtweise ins Spiel: Biodiversität sehen Sie als eine Versicherung für die Zukunft. Kann man daher von einer neuen „Solidargemeinschaft“ zwischen natürlichen Arten und nutzendem Menschen sprechen, d.h. einer Gemeinschaft, in der beide Seiten füreinander eintreten und nicht lediglich der Mensch die Natur ausbeutet?
Josef Settele: Bei der Sicht auf Biodiversität als Versicherung geht es ja nicht so sehr um den direkten monetären Schadensausgleich durch die Solidargemeinschaft (menschlicher) Versicherungsnehmer. Es betrifft bereits die Behebung einer Schadensursache bzw. die Minderung des Risikos beim Ausfall einer Art oder Varietät, wenn sie durch eine andere Art oder Varietät funktional zumindest in erheblichen Anteilen ersetzt werden kann. Also wird der Schaden oder das Risiko durch den Eintritt einer Variation für eine andere begrenzt – und zwar auch in seinen ökonomischen Folgen für den Menschen. Das hatte ich schon am Beispiel der Bienen angerissen, deren weltweiter Beitrag zur menschlichen Ernährung einen monetären Wert von mehreren hundert Milliarden Euro pro Jahr aufweist.
Ein anderes Beispiel ist die Banane. Die heute sehr gängige Sorte „Cavendish“ war einst als Ersatz für eine andere von Pilzen betroffene Sorte, gewissermaßen zur Schadensabwendung im großen Stil angebaut worden. Doch jetzt ist sie aber selbst bedroht – wiederum durch einen Pilz, der sogenannten Panamakrankheit TR4. Lösungen für dieses Problem könnten resistente, genetisch veränderte Bananen sein. Häufig ist aber bei resistenten Sorten über kurz oder lang eine Anpassung des „Schadorganismus“ – hier also des Pilzes – zu beobachten, die diese Resistenzen dann überwindet, insbesondere wenn diese auf großen Flächen als Monokulturen angebaut werden. Ein diversifizierter Anbau mit einer größeren Sortenvielfalt ist viel weniger anfällig, da die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass er Varietäten beinhaltet, denen der Schädling nicht so viel anhaben kann. Eben jene Varietäten stellen die Basis der Zukunftsversicherung dar.
An welchem Punkt greift nun der Aspekt der Solidargemeinschaft?
Josef Settele: Lassen sie es mich noch so ausdrücken: Die Vielfalt des Lebens ist Teil der Solidargemeinschaft, die in Schadensfällen eintritt, die durch Klimawandel, Parasiten oder Ackergifte verursacht wurden. Dieser Eintritt erfolgt durchaus auch zum Nutzen des Menschen als Forcierung einer Ökosystemleistung. Beispielsweise konnten wir in den letzten Jahrzehnten zeigen, dass bewässerter Reisanbau in Asien keine großen Schädlingsprobleme hat, solange – und das ist zunächst kontraintuitiv – nicht gegen Schädlinge gespritzt wird (Settele et al., 2018, 2019).
Der Einsatz von Insektiziden zerstört die Vielfalt der Nützlinge. Zudem ermöglicht er den Schädlingen eine beschleunigte Erholung ohne Feinde und dadurch entsprechendes Wachstum. Dies führt erst zu gravierenden Ausbrüchen und dann zu Verlusten. Die Vermeidung von Insektiziden hat in diesem System die Bewahrung einer hohen Artenvielfalt zur Folge, die immer viele Arten umfasst, welche als Gegenspieler der Schädlinge aktiv werden können.
Insofern also der Erhalt von Biodiversität eine Zukunftsversicherung darstellt, hat der Mensch die Option die Verpflichtung übernehmen, die Diversität des Lebens aktiv zu schützen und kann damit grundlegend sein Verhältnis zur und Verständnis von „Natur“ verändern. Letzteres ist eine zentrale Komponente des transformativen Wandels, den wir im Rahmen unseres globalen Assessments als Basis für zukunftsorientierte Entwicklung herausgearbeitet haben. „Wir“ umfasst in diesem Falle auch die Staatengemeinschaft, denn das Dokument ist in Ko-Produktion der Wissenschaftlichen Community mit den Regierungsdelegationen im Konsens verabschiedet worden (IPBES, 2019).
Erst jüngst hat eine Studie unter Leitung der TU München nachgewiesen, dass die Insektenbiomasse in Deutschland stark zurückgeht (Seibold et al., 2019). Was sind seine wesentlichen Ursachen bei uns? Hat sich unsere Landschaft wirklich derart verändert?
Josef Settele: Diese Studie beschreibt eines der ersten großen Ergebnisse der DFG-Exploratorien aus dem Bereich der Insekten. Die Extrapolatorien liegen in drei Regionen Deutschlands: der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg, dem thüringischen Nationalpark Hainich und im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin in Brandenburg. Hier wurden Daten der letzten 10 Jahre im Zeitraum 2008-2017 analysiert, wobei die höheren Biomassen alle am Anfang der Untersuchungsperiode standen und ab der zweiten Hälfte der Untersuchungen dann auf einem niedrigeren Niveau in etwa konstant blieben.
Wie bei vielen Studien ist es auch hier nicht einfach, die Ursachen herauszufiltern. Wir haben oft das Problem, dass wir mit den nun zahlreicher werdenden neueren Studien vermutlich den Ausklang einer Entwicklung beobachten, die schon über lange Zeit anhält. Das zeigt sich auch beim europäischen Grünland-Indikator der Tagfalter, für den wir seit 1990 quantitative Daten haben (Van Swaay et al., 2019). In diesen Indikator fließen seit 2005 auch die Daten zu den Tagfaltern in Deutschland ein. In Bezug auf diese Daten können wir in diesem Zeitraum keinen Trend bei den Individuenzahlen beobachten. Sehr wohl zeigt sich aber ein Rückgang der Artenzahlen – sowohl innerhalb wie auch außerhalb von Schutzgebieten (Rada et al., 2019).
Hier wie auch bei der DFG-Studie sehen wir einen Rückgang der sogenannten Gamma-Diversität. Sie zeigt uns an, dass Arten über Regionen hinweg verloren gehen und ebenso, dass wir eine Homogenisierung der Artenbestände haben. Das bedeutet, dass sich die Arteninventare überregional ähnlicher werden. Die DFG-Studie legt nahe, dass die meisten Triebkräfte des Arthropodenrückgangs auf größeren Skalen wirken (Anm. der Red.: Bei Arthropoden handelt es sich um Gliederfüßer wie Insekten, Tausendfüßler oder Spinnentiere). Sie stehen zumindest beim Grünland in Zusammenhang mit der Landschaft und damit der Landnutzung in der Umgebung dieser Gebiete.
All diese Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass letztlich der transformative Wandel in unserem Wirtschaften [...] eine wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige Zukunft darstellt.
Wie lässt sich das ändern, wo müsste man ansetzen?
Josef Settele: Für Gegenmaßnahmen impliziert dies, dass sich die Politik stärker auf die Landschaftsskala konzentrieren muss, um die negativen Auswirkungen der Landnutzung und somit der Veränderung der Landschaft in den Griff zu bekommen, die lokal vielleicht gar nicht so gut wahrzunehmen ist. Auch Klima-Effekte könnten hier eine Rolle spielen. Die genauen Zusammenhänge sind jedoch noch unklar.
All diese Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass letztlich der transformative Wandel in unserem Wirtschaften – national wie international – eine wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige Zukunft darstellt. Wie oben erwähnt, ist ein Zugang in Partnerschaft mit der Natur nötig. Dies umfasst auch ein wesentlich besser koordiniertes Vorgehen über Landschaften und verschiedene Sektoren wie Land- und Forstwirtschaft, Verkehr und Planung hinweg. Partnerschaft umfasst also auch eine Partnerschaft der verschiedenen Akteure.
Mit welchen Anreizen könnten wir Landwirte unterstützen, damit diese Bestäubern mehr Nahrung bieten?
Josef Settele: Es gibt ja schon erste Programme, wie die berühmten Blühstreifen. Diese bringen jedoch noch einige Probleme mit sich. Zum Beispiel können die Blühstreifen durch rechtliche Vorgaben maximal fünf Jahre bestehen bleiben, danach müssen sie wieder in die eigentliche Nutzfläche integriert werden. Zudem hängt das Überleben von Bestäubern nicht nur von den Nahrungsquellen ab, man braucht auch Nisthabitate. Da sind beispielsweise offene Bodenstellen für viele Arten eine wichtige Komponente. Das könnte erreicht werden, indem Weg- und Heckenränder nicht zu gepflegt daherkommen, sondern ein wenig Chaos und Störung zugelassen wird. Diese Maßnahmen, wie zahlreiche andere, haben die wir in einer deutschsprachigen Broschüre zu den Ergebnissen des IPBES-Bestäuber-Assessments in Kooperation mit dem Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG) in Sachsen zusammengestellt (Deutsche IPBES-Koordinierungsstelle, 2016).
Wie in Ihrer Frage schon anklingt, geht es letztlich um geeignete Anreize, solche Maßnahmen auch umzusetzen. Neben Programmen mit Subventionen, die oft gar nicht so einfach ausgestaltet werden können, geht es meines Erachtens ganz stark darum, dass wir die Landwirte mitnehmen und als Partner auf Augenhöhe begreifen. Viele von ihnen sind sehr mit der Natur verbunden und am Schutz der Artenvielfalt interessiert, nicht zuletzt weil gerade sie um die Bedeutung der Vielfalt – nicht nur der Kulturpflanzensorten und Tierrassen – wissen. Vielen Landwirten ist bewusst, dass wir alle von der Vielfalt der Arten abhängig sind.
Wie gelangen wir zu reich strukturierten Landschaften, wenn die Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft seit langem zementiert sind und häufig auf große Monokulturen gesetzt wird?
Josef Settele: Eine reiche Strukturierung der Landschaft scheitert nicht unbedingt an den Eigentumsverhältnissen. Es gibt durchaus viele Gründe, Strukturen zu erhalten bzw. wieder zu etablieren. Man denke nur an den Schutz vor Wasser- und Winderosion durch Hecken. Hecken werden oft auch von Landwirten mit ganz verschiedenem Flächenzuschnitt geschätzt. Mitunter ist die Struktur der Landschaft gar nicht hinreichend, um bestimmte Trends zu erklären. In Süd- und Südwestdeutschland finden wir oft eine reich strukturierte Landschaft, dennoch gibt es negative Entwicklungen bei Insekten. Mit Sicherheit hat auch die Nutzung der Fläche selbst negative Auswirkungen – insbesondere im Grünland ist dies unumstritten. Wenn Grünland vor allem zur Gülleentsorgung herhalten muss und zudem ein Dutzend oder mehr Schnitte im Jahr erfährt, ist es als Lebensraum für Insekten nicht mehr geeignet.
Infobox: Ausgewählte Daten & Fakten zu Insekten
- Weltweit werden fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen – und 75 Prozent aller wichtigen Nutzpflanzen – von Insekten bestäubt.
- Insgesamt schätzt man den globalen Wert der Bestäubung für die Ernteerträge auf 200 bis 600 Milliarden Euro pro Jahr. Konservativ geschätzt, müsste man mindestens 235 Milliarden US-Dollar aufwenden, um die Bestäubungsleistung der Tiere zu imitieren.
- Bei der Bestäubung findet man auch eine Spezialisierung unter den Insektenarten: Bei Ölpalmen/Ölfrüchten sind Rüsselkäfer, bei Luzernen und Feldbohnen sind Hummeln und bei Apfelbäumen sind Wildbienen, Hummeln sowie Schwebfliegen effektiver als die Honigbiene.
- Darüber hinaus sind 70 Prozent der Fledermaus- sowie 60 Prozent der Vogelarten auf Insekten als Futter angewiesen.
- Insgesamt gibt es ca. 8 Millionen Arten auf der Erde (ohne Mikroorganismen, vgl. Purvis et al., 2019), schätzungsweise gehören bis zu 3/4 aller Arten weltweit zu den Insekten.
- Geschätzt sind 1 Million Tier- und Pflanzenarten im Laufe der nächsten Jahrzehnte (nächste 20-50 Jahre) vom Aussterben bedroht, wenn nicht gegensteuert wird.
- Konservativ geschätzt sind 10 Prozent aller Insektenarten in den nächsten Jahrzehnten vom Aussterben bedroht.
- Wir haben in Europa 10-15 Insektenarten, die einen Großteil der Bestäubung übernehmen. Die restlichen 300-500 Insektenarten könnten dann wichtig werden, wenn Bestäuber nachhaltig unter dem Klimawandel leiden und eventuell ausfallen.
(Quellen: IPBES, 2019; Koller, 2019; Palme, 2019, 20. Oktober; Purvis et. al., 2019)
Bei der Honigbiene als Nutztier ist weltweit ein positiver Trend zu verzeichnen. Könnte das dazu beitragen, dass ihre wilden Verwandten und andere wildlebende Bestäuberarten verdrängt werden, weil sie beim Kampf um die Blüte einer erhöhten Konkurrenz ausgesetzt sind?
Josef Settele: Die Honigbiene ist nach Schwein und Rind das drittwichtigste Nutztier weltweit. Die Anzahl an Bienenstöcken, die von Imkern gehalten werden, hat in den letzten 30-40 Jahren weltweit um 50 Prozent zugenommen. Hingegen sind die Bestände von Wildbienen bei vielen Arten deutlich rückläufig. Dennoch gibt es aber nur wenige Indizien für eine gravierende Konkurrenz, zumal das Spektrum der besuchten Blüten sich zwischen den Arten oft deutlich unterscheidet. Dort wo Imker schon lange ihre Stöcke ausbringen und sich zugleich eine Diversität von Wildbienen gehalten hat, kann man eventuell überlegen, keine Erhöhung der Honigbienenbestände anzustreben. Außerdem gilt es auch hier, den Austausch zwischen den Akteuren zu pflegen, da sowohl Naturschützer wie auch Imker meist einen engen Bezug zur Natur und zu Insekten haben und es sinnvoller ist, die vorhandenen Kräfte zu bündeln. Letztes Jahr haben wir das in einem kleinen Beitrag in der Zeitschrift „Science“ beschrieben (Kleijn et al., 2018).
Abgesehen von der Landwirtschaft, welcher Wirtschaftszweig muss sich grundlegend ändern, wenn man Biodiversität als Zukunftsversicherung erhalten möchte? Wo müsste man dabei konkret ansetzen?
Josef Settele: Ich würde die Landwirtschaft hier gar nicht so alleine stehen lassen wollen. Es geht letztlich um unser ganzes Wirtschaftssystem, das mit der Natur versöhnt werden muss. Es geht also um die Integration von Ökologie und Ökonomie. Nicht umsonst klingen die beiden Begriffe sehr ähnlich, denn es geht in beiden Fällen um unser „Haus“ und wie wir damit umgehen. Dabei hat jeder eine Rolle – vom Konsumenten, über die Gemeinde, die privaten Unternehmen, die Verwaltung, die Planung, die regionalen und nationalen Regierungen, die Staatengemeinschaft (Settele, 2019b).
Die Genbank auf Spitzbergen besitzt mehr als 800.000 Samen von Nutzpflanzen aus der ganzen Welt. Können uns solche Genbanken gegen die Risiken des Artenverlusts versichern? Brauchen wir sie in großem Maßstab?
Josef Settele: Solche Genbanken sind ein wichtiges Instrument zur Bewahrung der Vielfalt, können aber wohl nur auf Nutzpflanzen beschränkt bleiben. Es ist hierbei wichtig zu wissen, dass die dort eingelagerten Samen immer wieder ersetzt werden bzw. angebaut werden müssen, um die Bestände an keimfähigen Samen aufrechtzuerhalten. Das ist für alle Pflanzenarten kaum vorstellbar – und bei Tieren sowieso keine Option. Ohne den Erhalt von Pflanzen in der freien Natur ist den Tieren die Basis entzogen, und ohne die Tiere wird es wiederum schwierig, die Pflanzen neu auszusähen und von ihnen Samen zu erhalten, zumal wenn diese von tierischen Bestäubern abhängig sind.
In europäischen Breiten ist es gerade die Kulturlandschaft – und nicht die Wildnis –, die zur Artenvielfalt beiträgt. Das passt ja vom Prinzip her sehr gut zu der Versicherungsperspektive, da die Bewirtschaftung des Bodens keineswegs per se als negativ für Biodiversität gewertet werden darf. Wie stellt sich die Lage heute in Europa dar? Brauchen wir möglicherweise in Deutschland und Europa ein neues Verständnis von Kulturlandschaft?
Josef Settele: Vielleicht brauchen wir kein neues Verständnis, vielmehr benötigen wir generell ein Verständnis von Kulturlandschaft. Das Bewusstsein für die Rolle der Kulturlandschaft, für die Vielfalt, ist in Europa nicht mehr hinreichend ausgeprägt. Zum Beispiel ist das Wissen um die Tatsache, dass die Landwirtschaft vor allem im Offenland – außerhalb von Wäldern – ein wichtiger Grund für unsere Artenvielfalt darstellt, in vielen Bevölkerungsschichten nicht vorhanden.
Ein Ziel bei den Aichi-Biodiversity-Targets ist es, 17 Prozent unserer Landfläche und Binnengewässer bis 2020 unter Schutz zu stellen. Es wird eines der wenigen Ziele zum Schutz der Biodiversität sein, welches voraussichtlich erreicht wird. Treffen wir bei der Auswahl der Naturschutzgebiete gute Entscheidungen? Was sind Lehren und Erfahrungen aus dem bisherigen Umgang mit Schutzgebieten?
Josef Settele: Insgesamt treffen wir bei der Auswahl und der Ausweisung von Schutzgebieten durchaus ganz gute Entscheidungen – insbesondere wenn man mit berücksichtigt, bei welchen Gebieten man einigermaßen erfolgversprechend vorgehen kann. Schauen wir nun mal auf Mitteleuropa und insbesondere Deutschland, dann ist aber festzustellen, dass wir insbesondere beim Management dieser Gebiete große Schwächen haben. Gerade auch in Schutzgebieten beobachten wir Rückgänge von Arten, auch wenn insgesamt dort mehr Arten vorhanden sind als außerhalb. Das schließt direkt an die vorhergehende Frage an, denn die Vorstellung, ein Gebiet auszuweisen und sich zu überlassen, führt in unserer Kulturlandschaft zu einem Rückgang der Vielfalt. Hier sind Nutzung und Management nötig – und hier ist auch die Rolle des Landwirtes als Landschaftspfleger ins Spiel zu bringen.
Eine Frage zum Abschluss: Zunehmend werden Privatgärten in pflegeleichte Stein- und Schotterwüsten verwandelt. Dass das weder für das lokale Klima, noch für die Artenvielfalt der heimischen von Flora und Fauna nützlich ist, liegt auf der Hand. Woher rührt dieser gegen die unmittelbar umgebene Natur gerichtete Trend? In einzelnen Kommunen wird bereits per Verordnung gegen Schottergärten vorgegangen. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg oder muss man stärker mit Anreizen arbeiten? Wie wichtig sind artenreiche Privatgärten für den Erhalt der Biodiversität insgesamt?
Josef Settele: In diesem Zusammenhang spricht man ja mittlerweile von „Gärten des Grauens“ (Viering, 2018; Koller, 2019). Aber zusätzlich zur Rolle von Privatgärten ist auch die Rolle des Siedlungsraumes für die Artenvielfalt zu beachten. Beides hängt eng zusammen. Man hört gelegentlich, dass Städte die neuen Zentren der Biodiversität wären. Dies ist jedoch eine Frage der Betrachtungsweise. Eigentlich ist der urbane Raum nicht per se artenreicher. Er ist es aber wiederum doch, und zwar im direkten Vergleich mit dem Land, denn hier hat eben die Artenvielfalt zum Beispiel durch Landnutzungswandel und Klimawandel abgenommen. Die Stadt hat damit quasi eine Arche-Noah-Funktion übernommen. Sie kann den Biodiversitätsverlust im ländlichen Raum aber nicht ausgleichen. Für unser aller Wohlergehen ist jedoch wichtig, dass wir Biodiversität in den Städten erhalten. Hiermit erklärt sich auch die Rolle von Privatgärten. Dennoch bin ich der Meinung, dass jeder, der einen Garten hat, diesen auch nach seinen Prioritäten entwickeln und bewirtschaften sollte. Es gibt auch Steingärten, die zwar karg wirken, aber gleichzeitig besondere Nischen für Arten aufweisen können. Ebenso ist der Übergang von einem Schottergarten zu einem japanischen Steingarten fließend – dies gilt auch für das ästhetische Empfinden. Für den Wasserhaushalt sind solche Flächen immer noch besser als eine komplett versiegelte Fläche. Auch hier plädiere ich dafür, die Mitmenschen durch inhaltliche Argumentation mitzunehmen und nicht durch Reglementierungen für die Anliegen der Natur zu verlieren – zu der sie selbst ja auch gehören.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte die ESKP-Redaktion.
Quellen
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- Koller, A. (2019). „Die Stadt hat eine Arche-Noahfunktion für einige Tier- und Pflanzenarten übernommen.“ [Interview mit Josef Settele]. Garten + Landschaft, (8), 16-19.
- Palme, K. (2019, 20. Oktober). Interview zum Insektensterben: Forscher fordert bestäuberfreundliche Politik [Interview der Deutschen Welle mit Josef Settele, www.dw.com]. Aufgerufen am 14.11.2019.
- Purvis, A., Butchart, S. H. M., Brondízio, E. S., Settele, J., Díaz, S. (2019). No inflation of threatened species. Science, 365(6455), 767. doi:10.1126/science.aaz0312
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Zitiervorschlag: Settele, J. (2020). Biodiversität als Versicherung für die Zukunft [Interview]. In D. Spreen, J. Kandarr, P. Klinghammer & O. Jorzik (Hrsg.), ESKP-Themenspezial Biodiversität im Meer und an Land: vom Wert biologischer Vielfalt (S. 14-20). Potsdam: Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ. doi:10.2312/eskp.2020.1.1.2