Nutzen von Biodiversität

Naturstoffe aus dem Meer für Medizin und Landwirtschaft

Über 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Ozeanen bedeckt. Sie umfassen fast 95 Prozent des Volumens der Biosphäre. Allein die Größe des marinen Lebensraumes und seiner biologischen Vielfalt deuten auf ein immenses und bisher weitestgehend unerschlossenes Potenzial mariner biologischer Ressourcen hin. Dieses Potential kann für die Entdeckung neuer Moleküle („Biodiscovery“) und biotechnologische Anwendungen genutzt werden.

Text: Prof. Dr. Deniz Tasdemir

GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel

  • Rund 30.000 marine Naturstoffe sind derzeit bekannt, ein Großteil davon kommt auf dem Festland nicht vor. Ein mariner Naturstoff der Kegelschnecke hat eine 1.000fach stärkere schmerzlindernde Wirkung als Morphium.
  • Derzeit werden Fucoidane aus Braunalgen der Ostsee auf ihr Anwendungspotenzial z.B. bei altersbedingten Augenkrankheiten hin untersucht. Auch neue Antibiotika gegen multiresistente Krankheitserreger sind im Fokus.
  • Neuartige Moleküle marinen Ursprungs könnten giftige, künstlich hergestellte Agrochemikalien zur Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten in der Landwirtschaft ersetzen.

Jedes Lebewesen produziert während des Stoffwechsels Zwischenprodukte, sogenannte Metabolite. Unterschieden wird dabei in zwei Arten von Metaboliten. Zum einen Primärmetabolite: Sie sind für grundlegende Lebensfunktionen und das Wachstum eines jeden Organismus unverzichtbar. Im Laufe der Geschichte hat der Mensch enorm von marinen Organismen und ihren Primärmetaboliten profitiert. Ein Beispiel hierfür ist der Verzehr von Proteinen, die in Fisch oder Meeresfrüchten enthalten sind. Sie enthalten außerdem gesundheitsfördernde Fette, zum Beispiel Omega-3-Fettsäuren, und bilden die Hauptnahrungsquelle für Millionen Menschen.

Andere Primärmetabolite wie polymere Zucker aus Algen oder Krustentieren – hierzu zählen Carrageen, Agar oder Chitosan – werden schon heute in verschiedenen Bereichen der Lebensmitteltechnologie oder als Nahrungsergänzungsmittel zur Reduktion von Übergewicht genutzt. So zielt das dänisch-deutsche Kooperationsprojekt „FucoSan“ darauf ab, solche polymeren sulfatierten Zucker, die Fucoidane, aus Braunalgen der Ostsee zu gewinnen. Nach Extraktion und Aufreinigung der Fucoidane wird ihr Anwendungspotenzial hinsichtlich medizinischer, pharmazeutischer, kosmetischer und weiterer industrieller Nutzung untersucht.

Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten für Menschen

Neben den Primärmetaboliten gibt es marine Sekundärmetabolite, auch als marine Naturstoffe bezeichnet. Sie bestehen im Gegensatz zu Primärmetaboliten oft aus kleinen, aber chemisch sehr komplexen Molekülen. Sie dienen insbesondere der Interaktion und Kommunikation mit anderen Organismen, zum Beispiel der Anlockung von Partnern für die Vermehrung, aber auch zur chemischen Verteidigung oder zum Schutz vor schädigender ultravioletter Strahlung.

Die eigentliche marine chemische Diversität stellt genau diese marinen Sekundärmetabolite dar. Hierzu gehören solche Naturstoffe, die von sessilen, wirbellosen Tieren produziert werden. Sessil heißt, dass die Organismen unfähig zur Fortbewegung sind wie zum Beispiel Schwämme oder Korallen. Aber auch Algen und marine Pflanzen wie beispielsweise Seegräser erzeugen solche Naturstoffe (Papazian et al., 2019). Besonders für die festsitzenden Organismen übernehmen Sekundärmetabolite wichtige ökologische Funktionen – derzeit sind ca. 30.000 dieser marinen Naturstoffe bekannt – denn sie weisen oft neue chemische Grundstrukturen ohne vergleichbare bekannte Strukturen aus terrestrischen Lebensräumen auf.

Sie bieten für Menschen vielfältige Anwendungsmöglichkeiten – von Medikamenten bis zu Kosmetika. Aus einigen wurden bereits Arzneimittel entwickelt, welche im klinischen Einsatz sind. Darüber hinaus befinden sich viele marine Naturstoffe in klinischen und präklinischen Studien gegen Krebs, chronische Schmerzen und Infektionen. Beispielsweise verhindert der Naturstoff Conotoxin MVIIA, der von räuberischen Kegelschnecken zur Lähmung von Beutefischen produziert wird, beim Menschen die Weiterleitung von Schmerzreizen. Conotoxin MVIIA hat eine 1.000fach stärkere schmerzlindernde Wirkung als das stark wirksame Schmerzmittel Morphium und wird daher bei der Schmerzbehandlung von Patienten mit Krebs und AIDS im Endstadium eingesetzt.

Chemische Diversität ist meist eng verbunden mit biologischer Diversität. So zeichnen sich marine Habitate mit hoher biologischer Diversität und einem stark auf Konkurrenz ausgerichteten Umfeld für festsitzende Organismen (hierzu zählen zum Beispiel tropische Korallenriffe) auch durch eine hohe chemische Diversität aus. Aber auch das Weddellmeer in der Antarktis beherbergt eine einzigartige Schwammfauna und repräsentiert ein Beispiel für hohe Diversität in Meeresregionen mit extremen, aber hochstabilen (große Tiefe, konstant niedrige Temperaturen) Umweltbedingungen.

Neue, hoch entwickelte Technologien ermöglichen heute schon die Probenahme in entlegenen, schwer erreichbaren marinen Ökosystemen. Zudem ist es möglich, die Proben umfassend zu analysieren. Dies betrifft auch die Extraktion, Isolierung und Charakterisierung bioaktiver Sekundärmetabolite. Hinzu kommt die schnelle Testung auf pharmakologische Aktivität mittels sogenannter Hochdurchsatz-Screening-Systeme, mittels derer mehrere zehntausend Substanzen gleichzeitig getestet werden können. Weltweit haben Forschungsteams bereits eine große Anzahl kleiner Moleküle aus tropischen oder Tiefseeschwämmen identifiziert, die effizient das Wachstum von Krebszellen unterbinden. Die den beobachteten Aktivitäten zugrunde liegenden einzigartigen Wirkmechanismen werden ebenfalls identifiziert (Li et al., 2018).

Neuartige Moleküle gegen Pflanzenkrankheiten

Marine biologische Diversität wird zudem in hohem Maße von marinen, in Sedimenten oder in enger Assoziation mit marinen Tieren und Pflanzen lebenden Mikroorganismen repräsentiert. Sie stellen die weitaus nützlichsten Quellen für biotechnologische Anwendungen dar. Allerdings lässt sich ein Großteil mariner Mikroorganismen entweder nicht kultivieren oder zeigt bei Kultivierung im Labor nur eine geringe Produktion neuer Sekundärmetabolite. Um die chemische Diversität der produzierten Sekundärmetabolite zu steigern, verwendet unsere Forschungsgruppe systematisch unterschiedliche Medien, Kultivierungsbedingungen sowie die Technik der Co-Kultivierung.

In einem aktuellen Projekt wenden wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am GEOMAR die Co-Kultivierung an marinen Pilzen an, um neue Agrochemikalien zur Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten zu entdecken (Oppong-Danquah et al., 2018). Es erfolgt eine direkte Co-Kultivierung von Pflanzenpathogenen mit einem marinen Pilz (siehe Foto oben) in einer kompetitiven, eng begrenzten Umgebung wie z.B. einer Petrischale. So wird die gezielte Produktion neuartiger Moleküle mit erhöhter Aktivität gegen Pflanzenpathogene induziert, die hohes Anwendungspotenzial in der Landwirtschaft als Ersatz für synthetische und toxische Agrochemikalien hat. Im Rahmen des EU-Projekts MarPipe wird nach neuen Antibiotika gegen multiresistente Krankheitserreger wie Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA) gesucht. Kürzlich hat unsere Forschungsgruppe dabei eine Reihe von Bakterien und Pilzen aus der Tiefsee identifiziert, welche sogar das Wachstum schwer zu bekämpfender Bakterienstämme hemmen.

Insgesamt hat die marine chemische Diversität – repräsentiert durch marine Naturstoffe – ein enormes Potenzial, Lösungen für die großen globalen Herausforderungen besonders im Hinblick auf menschliche Gesundheit und Lebensqualität zu bieten.

Forschungsprojekte

FucoSan – Gesundheit aus dem Meer (Health from the sea)
Funding body: Interreg Germany-Denmark
Duration: May 2017 - August 2020
Contact: Prof. Dr. Deniz Tasdemir
Website: https://www.fucosan.eu/

MarPipe – Improving the flow in the pipeline of the next generation of marine biodiscovery scientists
Funding body: Horizon2020
Duration: November 2016 - November 2020
Contact: Prof. Dr. Deniz Tasdemir
Website: http://www.marpipe.eu

Quellen

  • Li, F., Janussen, D., Peifer, C., Perez-Victoria, I. & Tasdemir, D. (2018). Targeted Isolation of Tsitsikammamines from the Antarctic Deep-Sea Sponge Latrunculia biformis by Molecular Networking and Anticancer Activity. Marine Drugs, 16(8):268. doi:10.3390/md16080268
  • Oppong-Danquah, E., Parrot, D., Blümel, M., Labes, A. & Tasdemir, D. (2018). Molecular Networking-based metabolome and bioactivity analyses of marine-adapted fungi co-cultivated with phytopathogens. Frontiers in Microbiology, 9:2072. doi:10.3389/fmicb.2018.02072
  • Papazian, S., Parrot, D., Buryskova, B., Weinberger, F. & Tasdemir, D. (2019). Surface chemical defence of the eelgrass Zostera marina against microbial foulers. Scientific Reports, 9:3323. doi:10.1038/s41598-019-39212-3

Zitiervorschlag: Tasdemir, D. (2020). Naturstoffe aus dem Meer für Medizin und Landwirtschaft. In D. Spreen, J. Kandarr, P. Klinghammer & O. Jorzik (Hrsg.), ESKP-Themenspezial Biodiversität im Meer und an Land: vom Wert biologischer Vielfalt (S. 47-49). Potsdam: Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ. doi:10.2312/eskp.2020.1.2.2