Klimawandel
Welches Leben entsteht unter wegbrechendem Schelfeis in der Antarktis?
- Entlang der antarktischen Küste vollziehen sich im Kontext des Klimawandels und durch den Schelfeisabbruch dramatische Veränderungen.
- Neue Lebensräume entstehen – es kommt praktisch zu einer Inventur von Lebensgemeinschaften in den Ozeanen.
- Dies erlaubt im Zusammenhang mit dem Klimawandel Schlussfolgerungen für andere Meeresökosysteme.
- Computermodelle können dazu dienen, ökologische Zusammenhänge aufzuklären und treibende Kräfte zu identifizieren.
Laut dem ersten Globalen Sachstandsbericht des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) sind nur noch 3 Prozent der Weltmeere vom Menschen völlig unberührt. So bleiben nur wenige Gebiete, z.B. im Südlichen Ozean, wo heute noch der Einfluss von Umweltveränderungen auf die marine Lebensvielfalt und Ökosystemfunktionen relativ ungestört untersucht werden kann. Ein interessanter Prozess ist dabei entlang der antarktischen Küste zu beobachten, an der die Natur einzigartige und großräumige „Experimente“ durchführt.
Natürlicherweise und durch den Klimawandel bedingt brechen immer wieder große schwimmende Eistafeln von dem Inlandeis der Antarktis ab und driften davon. Das hat erhebliche Folgen für das darunterliegende Meeresökosystem, welches bisher von der Ozeanerwärmung noch nicht betroffen war.
Wenn Meeresökosysteme noch mit Schelfeis bedeckt sind, herrscht Finsternis im Wasser, und am Meeresboden große Nahrungsknappheit, ähnlich wie in der Tiefsee. Dadurch konnte sich über Jahrtausende eine Tiefsee-ähnliche Fauna unter dem Schelfeis auf dem flachen Antarktischen Kontinentalsockel entwickeln. Wenn durch den Schelfeisabbruch plötzlich Licht in die bisher stockdunklen Gewässer dringt, werden drastische Veränderungen in Gang gesetzt.
Diese können u.a. durch bildgebende Methoden, also Unterwasserfotografie und -video untersucht werden. Diese Methoden haben den großen Vorteil, dass sie den natürlichen Lebensraum nicht stören. Da die wissenschaftlichen Fragen aber komplexe ökologische Zusammenhänge betreffen, ist während einer Expedition eine gute interdisziplinäre Abstimmung beim Einsatz verschiedener Probennahmegeräte und beim Probennahmedesign nötig.
Ist die Besiedlung am Meeresboden ungestört, siedeln sich Glasschwämme an, die z.B. Seegurken und Haarsternen als Lebensraum dienen. © A. Starmans, AWI
Wenn Eisberge über das Sediment kratzen, vernichten sie das Bodenleben und hinterlassen Areale mit solchen Schleifspuren. In diese wandern zunächst nur bewegliche Tiere ein, wie kleine Fische, Schlangensterne und vielborstige Ringelwürmer. © J. Gutt und W. Dimmler, AWI/MARUM
Unter dem nun weggebrochenen Schelfeistafeln gab es eine erhöhte Anzahl von Tiefseebewohnern, wie diesen vielarmigen Seestern. © J. Gutt und W. Dimmler, AWI/MARUM
Seescheiden können schnell mit "explosionsartigem" Populationswachstum auf günstige Ernährungsbedingungen reagieren, z.B. nach dem Wegbrechen der schwimmenden Schelfeistafeln. © J. Gutt und W. Dimmler, AWI/MARUM
Eine Ausnahme unter den ansonsten langsamwüchsigen Schwämmen ist diese Lollipop-Art, die in einem mittlelfristigen Wiederbesiedlungsstadium nach Eisbergzerstörung in großer Dichte vorkommen kann. © J. Gutt und W. Dimmler, AWI
Nur noch 3 Prozent der Weltmeere [sind] vom Menschen völlig unberührt.
Was passiert, wenn mit einem Mal Licht in die Gewässer dringt?
Zunächst beginnen Kleinstalgen zu wachsen. Ein Teil davon sinkt zum Meeresboden und steht dort den Bodentieren als Nahrung zur Verfügung. In solchen Gebieten können dann dichte Ansammlungen von mobilen Seegurken beobachtet werden, die durch den Nahrungsüberfluss angelockt werden und sich bei den günstigen Bedingungen sehr erfolgreich fortpflanzen. Ähnlich schnell tauchen die für die Bodenfauna des Südlichen Ozeans außergewöhnlich schnellwüchsigen und am Meeresboden festsitzenden Seescheiden auf. Da die Seegurken wie auch die Seescheiden massenhaft auftreten, ist die Lebensvielfalt in solchen Lebensgemeinschaften sehr niedrig. Genauso schnell wie diese Ansammlungen entstehen, können sie aber auch wieder verschwinden.
Die spannendste Frage, die sich aus diesem „Experiment der Natur“ ergibt, ist, ob sich überhaupt, und wenn ja wann, eine für die Verhältnisse unter dem Schelfeis typische Lebensgemeinschaft in ein normales Antarktisches Bodenleben umwandelt. Langfristige Beobachtungen solcher Prozesse, bei denen ein klimabedingter Wandel im Mittelpunkt steht, tragen zu einer noch lange nicht abgeschlossenen globalen Inventur von Lebensgemeinschaften in den Ozeanen bei, und erlauben Schlussfolgerungen für andere Meeresökosysteme.
Man kann daraus unter anderem lernen, wie viel Zeit ein Ökosystem braucht, um sich an neue Umweltbedingungen anzupassen, welche Faktoren (Fortpflanzungsmechanismen, Mobilität der Organismen, physikalische Faktoren wie z.B. Störungsmuster am Meeresboden etc.) diese Entwicklung grundsätzlich steuern und zu welchem Ergebnis entsprechende ökologische Anpassungen letztendlich führen.
Auf Grund laufende Eisberge zerstören Fauna und Flora: Was geschieht dann?
Bei dem Auseinanderbrechen der schwimmenden Eistafeln entstehen Eisberge, die ein weiteres „natürliches Experiment“ ausführen. Wenn sie auf dem antarktischen Kontinentalsockel auf Grund laufen, zerstören sie zunächst fast alles Leben.
Insbesondere wenn man etwas ältere Eisbergkratzer mit bildgebenden Methoden untersucht, stellt man fest, dass zunächst mobile Tiere wie kleine Fische oder Schlangensterne in solche zuvor gestörten Areale einwandern.
Dann folgen am Boden festsitzende „Pioniere“ mit explosionsartigem Populationswachstum, die aus den verschiedensten Tiergruppen kommen können, etwa Nesseltiere, Moostierchen oder Seescheiden. Wenn diese Erstbesiedler das Einwandern weiterer Arten zulassen, steigt die anfangs niedrige Lebensvielfalt an.
Die am langsamsten wachsenden Arten, wie große Schwämme, sind eventuell im Verdrängungswettbewerb die robustesten. Wenn sie sich gut entwickeln und später die Lebensgemeinschaft dominieren, sinkt zwar einerseits die Lebensvielfalt wieder, andererseits bilden diese Schwämme aber auch das lebende Substrat für eine reiche Begleitfauna wie z.B. Meeresasseln, Schnecken und Stachelhäuter.
Simulation der Artenabfolge am Computer: Zusammenhänge zwischen Artenvielfalt und physikalischen Störungen
Sind genügend spezifische Merkmale der Arten, z.B. deren Wachstum, Mobilität, Fortpflanzung und Daten zu den Störungsereignissen bekannt, so kann eine entsprechende Artenabfolge auch am Computer simuliert werden. Solche Modelle dienen in erster Linie dazu, ökologische Zusammenhänge aufzuklären und treibende Kräfte zu identifizieren.
Erst in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium lassen sich aus solchen Modellen auch Projektionen in die Zukunft berechnen. So kann die Reaktion des Antarktischen Bodenlebens auf verschiedene Klimaszenarien prognostiziert werden, z.B. dass bei vermehrter Eisbergstörung zunächst keine deutliche Minderung der Lebensvielfalt zu erwarten ist, dass aber eine Verarmung eintritt, wenn das meiste Schelfeis weggebrochen ist und die Eisbergkratzer ausbleiben.
Solche Zusammenhänge zwischen physikalischen Störungen und der Lebensvielfalt sowie Ökosystemfunktionen gibt es auch in anderen Meeresgebieten, so z.B. durch Wirbelstürme in Korallenriffen und durch Brände in Wäldern. Somit eignen sich die Untersuchungen im Südlichen Ozean auch besonders gut für systemübergreifende Vergleiche.
Forschungssteckbrief
Bei der Analyse der Bilder und Daten ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachleuten aus den In- und Ausland nötig. International sind diese Untersuchungen in Projekte, z.B. des Scientific Committee on Antarctic Research (SCAR) oder Southern Ocean Observing System (SOOS) eingebunden, wo regelmäßig ein Austausch von Ergebnissen und Erfahrungen erfolgt. Von Zeit zu Zeit finden auch übergreifende Auswertungen von Daten aus vielen verschiedenen Expeditionen statt.
Quellen
- IPBES. (2019, 6. Mai).Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (Advance Unedited Version, hrsg. von S. Díaz, J. Settele, E. S. Brondizio E.S., H. T. Ngo, M. Guèze, J. Agard, A. Arneth, P. Balvanera, K. A. Brauman, S. H. M. Butchart, K. M. A. Chan, L. A. Garibaldi, K. Ichii, J. Liu, S. M. Subramanian, G. F. Midgley, P. Miloslavich, Z. Molnár, D. Obura, A. Pfaff, S. Polasky, A. Purvis, J. Razzaque, B. Reyers, R. Roy Chowdhury, Y. J. Shin, I. J. Visseren-Hamakers, K. J. Willis & C. N. Zayas). IPBES secretariat.
- Hempel, G., Hagen, W. & Bischof, K. (Hrsg.). (2006). Faszination Meeresforschung (2. Auflage). Berlin, Germany: Springer.
- Lozán, J. L., Breckle, S.-W., Müller, R. & Rachor, E. (Hrsg.). (2016). Warnsignal Klima: Die Biodiversität. Wissenschaftliche Auswertungen. Hamburg, Germany.
- Salomon, M. & Markus, T. (Hrsg.). (2018). Handbook on Marine Environment Protection. Science, Impacts and Sustainable Management. Heidelberg, Germany: Springer International Publishing.
Zitiervorschlag: Gutt, J. (2020). Welches Leben entsteht unter wegbrechendem Schelfeis in der Antarktis? In D. Spreen, J. Kandarr, P. Klinghammer & O. Jorzik (Hrsg.), ESKP-Themenspezial Biodiversität im Meer und an Land: vom Wert biologischer Vielfalt (S. 72-75). Potsdam: Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ. doi:10.2312/eskp.2020.1.3.3