Handlungsoptionen: Vor Naturgefahren schützen

Tsunami-Frühwarnsystem für die bevölkerungsreichste Insel der Welt

Gerade dicht besiedelte Küstenregionen sind bei einem Tsunami besonders verletzlich. Umso wichtiger ist es, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Den Aufbau des Tsunami-Frühwarnsystems in Indonesien hat das Deutsche GeoForschungsZentrum federführend verantwortet. Wir sprechen mit dem seinerzeit verantwortlichen Projektleiter Dr. Jörn Lauterjung.

  • Deutsch-indonesisches Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean: GITEWS
  • Bei einem Tsunami kommt es auf funktionierende Informationsketten an.
  • Genauso wichtig ist die Identifizierung und Ausweisung von vertikalen Fluchtmöglichkeiten, z. B. parkhausähnliche Shelter.
  • Capacity Building: Wissenstransfer und Trainingsmaßnahmen sind regelmäßig nötig.

Die Katastrophe ereignete sich am 26. September 2004 um 7:59 Ortszeit. 150 Kilometer westlich von Sumatra entfernt ereignete sich das zweitstärkste jemals gemessene Erdbeben flach unter dem Meeresboden in der Nähe der kleinen Insel Simeuluë im Indischen Ozean. Das Beben erzeugte einen Riss, der sich in nur acht Minuten rund 1.200 Kilometer nach Norden bis über die Inselgruppen der Nikobaren und Andamanen westlich von Thailand hinaus ausdehnte. Die Eurasische Platte verschiebt sich an der Bruchstelle um 15 Meter nach Südwesten, an manchen Stellen sogar bis zu 20 Metern. Gleichzeitig hebt sich die Platte um bis zu 10 Meter nach oben und damit auch die darüber liegenden Wassermassen. Mit dem Seismometernetz des GeoForschungsZentrums Potsdam (GFZ) wird ein Erdbeben der Magnitude 9,3 gemessen und damit das zweitstärkste Erdbeben in der mehr als hundertjährigen Geschichte der exakten Messung von Erdbeben. An der Wasseroberfläche im tiefen Ozean merken die Fischer davon kaum etwas. Erst in den flachen Gebieten vor den Küsten von Indonesien, Indien, Sri Lankas und Thailand wird sich die Welle bis auf eine Höhe von mehr als 10 Metern aufbauen. Im tiefen offenen Ozean reist die Welle mit 700 km/h rasend schnell, aber nahezu unbemerkt. Selbst Küstengebiete in Afrika sind noch betroffen. Auf Land treffen die Wellen dann mit wesentlich geringeren Geschwindigkeiten, im Schnitt erreichten sie nur noch 36 Kilometer pro Stunde. Zahllose Orte und Ferienregionen sind betroffen und werden überflutet, mehr als 236.000 Menschen sterben.

Mit Unterstützung der Bundesregierung und weiteren nationalen und internationalen Partnern baute das GFZ in Indonesien ein leistungsstarkes Frühwarnsystem auf, damit sich eine derartige Katastrophe nicht wiederholt. Ein Interview hierzu mit Dr. Jörn Lauterjung, dem damaligen Projektleiter von GITEWS (German Indonesian Tsunami Early Warning System).

Herr Lauterjung, wie kam damals eigentlich die Entscheidung zustande, ein Frühwarnsystem in Indonesien aufzubauen?

Dr. Lauterjung: Wir wussten aus der Analyse, dass die Wellen circa 15 Minuten nach dem Beben auf Sumatra trafen. Viele von uns haben die Bilder der dort zerstörten Stadt Banda Aceh noch gut in Erinnerung. Gut eine Stunde nach dem Beben trafen die Wellen die Touristenregionen in Thailand, zwei Stunden später dann Sri Lanka und noch einmal eine halbe Stunde später Indien. Sechs Stunden nach dem Beben sterben immer noch mehrere hundert Menschen, als die Wellen auf die Küste Somalias treffen. Es war sehr schnell bekannt, dass es sich um ein sehr schweres Seebeben handelt. Aber es gab keine funktionierenden Informationsketten, keine entsprechenden Strukturen, wo man Informationen hätte bündeln und in der Folge die Menschen warnen können. Mit einem Frühwarnsystem hätte man viele Menschenleben retten können.


Was ist der Grundgedanke eines Frühwarnsystems?

Dr. Lauterjung: Wir saßen hier unmittelbar nach den furchtbaren Ereignissen kurz nach Weihnachten am GFZ zusammen und diskutierten das Geschehen. Alle waren sich über den Aufbau eines Tsunami-Frühwarnsystems einig. Das damalige Treffen war der eigentliche Start von GITEWS, das wir dann gemeinsam mit indonesischen und deutschen Partnern realisiert haben. Bei einem Tsunami hat man einen Zeitkorridor von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden, je nachdem, wo das Beben stattfindet, das den Tsunami auslöst. Wenn eine Riesenwelle auf die Küste zurollt, müssen die Menschen dort so schnell wie möglich alarmiert werden. Nur so haben sie Zeit, auf rettende Höhen zu fliehen oder hohe Gebäude aufzusuchen, in denen sie sicher sind. Dazu braucht man in Indonesien ein leistungsfähiges und schnelles Messsystem für Beben sowie Informations- und Warnketten, die sehr gut funktionieren.


Inwiefern ist das das wichtig?

Dr. Lauterjung: Die geologische Situation vor Indonesien ist so, dass die Subduktionszone in der starke Erdbeben ausgelöst werden können, weitgehend parallel zur Küste Indonesiens verläuft und ein dort ausgelöster Tsunami in 20 bis 30 Minuten die Küste Indonesiens erreicht. Wir können Erdbeben nicht voraussagen, die wichtigste Information ist deshalb die sehr schnelle Messung und Bestimmung von Ort und Magnitude eines Erdbebens, um eine Warnung aussprechen zu können.


Weltweit gab es bereits zuverlässige Erdbeben-Messstationen - in Japan, Deutschland, Südamerika oder den USA. Wie war die Situation in Indonesien?

Dr. Lauterjung: Wir erfassen am GFZ Erdbebendaten mit unserem GEOFON, einem weltweiten Netzwerk automatischer Messstationen. Wir haben damals auch das verheerende Beben vor der Küste Indonesiens hier registriert, allerdings brauchten die Erdbebenwellen ca. 11 Minuten bis nach Europa. Wegen der besonderen geologischen Situation in Indonesien und der daraus resultierenden kurzen Laufzeit von Tsunami muss die Warnung die Menschen dort allerdings spätestens nach fünf Minuten erreichen, deswegen muss die Erfassung der Naturgefahr direkt vor Ort erfolgen. Anders als beispielsweise in Hawaii: Dort können sich die Warnsysteme wesentlich mehr Zeit lassen, weil ein Tsunami, ausgelöst vor Japan oder der südamerikanischen Küste, dorthin einige Stunden braucht.

Tsunami: Potentielle Verluste für die Tourismusbranche in Strandnähe – die weltweiten Top 10

nach dem Tsunami-Risiko-Index von Reisezielen (KIT) | Karte: Wissenplattform Erde und Umwelt, eskp.de

Wir wissen aus anderen Projekten, dass häufig der Mensch das schwächste Glied der Warnkette ist.

Deshalb wurde in den folgenden Jahren gemeinsam mit der indonesischen Regierung ein Frühwarnsystem aufgebaut. Was waren die Herausforderungen?

Dr. Lauterjung: Immens wichtig ist es, möglichst nah am Epizentrum eines Seebebens zu messen. Das war eine kleine Meisterleistung der Forscher: Es wurde ein sehr dicht gespanntes Netz an diversen Messstationen aufgebaut, um möglichst nah an den Sunda-Graben, der parallel zur Küste der Inseln Sumatra, Java und Bali verläuft, heranzurücken. Hier kommen Seismometer, GPS-Stationen und Instrumente zur Küstenpegelmessung zum Einsatz. Über Indonesien verteilt wurden insgesamt ca. 300 Instrumente aufgebaut. Davon sind 160 moderne Erdbeben-Messstationen (Seismometer) über das ganze Land verteilt und mit weiteren Messstationen rund um den Indischen Ozean und im Westteil des Pazifiks vernetzt. Mit Hilfe von GPS beobachten etliche Stationen, wie sich die Erdplatten bewegen, vor allem vertikal. Computermodelle erzeugen mit Hilfe dieser Fülle an Daten ein genaues Lagebild und liefern Informationen, wann und wie hoch die Wellen an jedem einzelnen Abschnitt der Küste auflaufen und wie weit sie landeinwärts dringen werden. Man kann also für jedes Gebiet sehr spezifische Warnungen rausgeben.


Also alles eine Frage der Technik? Problem gelöst?

Dr. Lauterjung: Wir wissen auch aus anderen Projekten, dass häufig der Mensch das schwächste Glied der Warnkette ist. Gerade auf der letzten Meile, wenn die Information zu den Menschen kommt, entstehen häufig Probleme. Wie evakuiert man eine ganze Stadt, wohin sollen die Menschen fliehen? Wie schult man sie, damit sie sich richtig verhalten, wie sehen Fluchtwege aus? Es muss alles bis ins letzte Detail durchdacht sein. Die Behörden müssen gut zusammenspielen und die Bevölkerung muss auch immer wieder sensibilisiert werden. Denn wenn ein Tsunami länger zurückliegt, verschwindet das Wissen aus dem öffentlichen Gedächtnis und das Risikobewusstsein in der Bevölkerung nimmt ab.


Wie wichtig sind solche Frühwarnsysteme für dicht besiedelte küstennahe Gebiete und Städte?

Dr. Lauterjung: Aus meiner Sicht extrem wichtig, denn gerade Städte sind im Falle eines Tsunamis sehr verletzlich. Wir wissen aus früheren Ereignissen, was in einer dicht besiedelten Stadt passieren kann, die von einem Tsunami überrollt wird. 1755 wurden mehr als Dreiviertel der Altstadt von Lissabon durch ein schweres Erdbeben und den anschließenden Tsunami zerstört. Die Menschen flohen nach dem Erdbeben an den Hafen. Sie sahen, dass das Meer verschwunden war, die Schiffe lagen im Hafenschlick. Und dann kam der riesige Tsunami und schoss den Tejo aufwärts. Es gab kein breites Wissen in der Bevölkerung für die Indikatoren eines kommenden Tsunami – übrigens wie 2004 in Indonesien auch. Die Menschen verhielten sich dementsprechend falsch und fielen der zerstörerischen Kraft des Wassers zum Opfer.


Kann man Städte durch technische oder bauliche Maßnahmen schützen?

Dr. Lauterjung: Bei Wellen in dieser Höhe sind die technischen Möglichkeiten begrenzt. Viele Bollwerke würden bei einem so schweren Ereignis einfach überspült, siehe das Beispiel Japan 2011. Man hat aber auch ein falsches Bild vor Augen, wenn man nur die Höhe einer Riesenwelle vor Augen hat. Tatsächlich werden gigantische Wassermassen bewegt, das Wasser strömt mit einer enormen Energie immer weiter nach. Ein technisches Bauwerk, das diese Energien und Massen auffangen könnte, wäre nur mit erheblichem Aufwand zu realisieren. Die Küstengebiete, die man schützen müsste, sind auch viel zu groß. Also sind eigentlich nur funktionierende Frühwarnsysteme eine realistische Handlungsoption. Diese schließen auch die Identifizierung und Ausweisung von vertikalen Fluchtmöglichkeiten wie Hochhäuser in die Evakuierungspläne ein. Vielerorts wurden auch sogenannte Shelter errichtet, parkhausähnliche Strukturen zur vertikalen Evakuierung.


Also hier auch wieder der Mensch als Schlüsselfaktor?

Dr. Lauterjung: Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass es keine Toten geben wird, wenn ein größerer Tsunami auf eine Stadt trifft. Aber die Anzahl der Opfer kann deutlich verringert werden, wenn die Menschen wissen, dass ein Tsunami kommt, und Zeit haben, um zu reagieren. Wenn Fluchtorte und Fluchtwege gekennzeichnet sind und die Menschen wissen, was zu tun ist. 2004 starben an der Südküste Indiens an die 10.000 Menschen. Heute gibt es als Folge – wie in Indonesien auch – ein Frühwarnsystem. Viele Länder haben reagiert und die richtigen Schlüsse gezogen. Wir wissen aus vielen Projekten, dass häufig der Mensch das schwächste Glied der Warnkette ist. Ein wichtiger Schlüssel ist deshalb das Capacity Building, wenn es also um Wissenstransfer, Vorbeugung und Trainingsmaßnahmen geht. Diese können eine deutlich schadensmindernde Wirkung im Falle eines Tsunamis haben. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann so ein Schadensereignis eine wirklich große Stadt treffen wird. 

Vielen Dank für das Gespräch

Die Fragen stellte Oliver Jorzik (ESKP), Mai 2018

Hintergrundinformationen: GITEWS – High-Tech zum Schutz der Küste Indonesiens

Das deutsch-indonesische Tsunami-Frühwarnsystem für den Indischen Ozean (German Indonesian Tsunami Early Warning System – GITEWS) ist ein Projekt der deutschen Tsunami-Nothilfe. Aufgabe von GITEWS ist es, einen Tsunami frühzeitig und sicher zu erkennen. Hierfür integriert das Frühwarnsystem eine breite Basis von Sensoren, zu denen neben Erdbebenmessstationen noch GPS-Stationen und Küstenpegel zählen. Auf Grundlage dieser verschiedenen Sensoren wird eine schnelle und zuverlässige Erkennung von Tsunamis in Indonesien ermöglicht. Im Rahmen des Projekts wurden Wissenschaftler, Katastrophenmanager, Vertreter der lokalen Behörden und die lokale Bevölkerung geschult, um zu wissen, was im Falle eines Tsunami zu tun ist. Es wurden darüber hinaus Informations- und Alarmierungsketten definiert sowie Evakuierungspläne erarbeitet. 

Tsunami-Warnungen werden in weniger als fünf Minuten nach einem Seebeben ausgegeben. Die Informationen werden laufend aktualisiert bis es zur Entwarnung kommen kann. Die Informationen fließen im Frühwarnzentrum zusammen. Zur Unterstützung steht dort ein Simulationssystem bereit, welches auf eine umfangreiche Datenbank mit vorkalkulierten Tsunami-Szenarien für den Sundabogen zugreifen kann und innerhalb von Sekunden auf Basis aktueller Sensormesswerte die zutreffendsten Szenarien selektieren kann. 

GITEWS ist eines der modernsten Syteme dieser Art weltweit und wurde unter der Leitung des Deutschen GeoForschungsZentrums in Potsdam (GFZ) von einem Konsortium deutscher Forschungseinrichtungen entwickelt. Beteiligt waren das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven (AWI), das GEOMAR in Kiel, das Helmholz-Zentrum Geesthacht (HZG), das Deutsche Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR), die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie zahlreiche indonesische Partner wie der jetzige Betreiber des Frühwarnsystems, der Indonesische Dienst für Meteorologie, Klimatologie und Geophsik (BMKG) oder die Nationale Behörde für Katastrophenschutz (BNPB). Finanziert wurde es vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).