Naturgefahren und Städte

Das große Bangen – Erdbebengefährdung Istanbul

Professor Dr. Marco Bohnhoff vom Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum im Interview über die Gefahr eines starken Erdbebens in der Metropolregion Istanbul.

  • Experten sind sich einig, dass man in naher Zukunft mit einem starken Beben in Istanbul rechnen muss.
  • Viele Indizien deuten darauf hin, dass die tektonischen Platten vor Istanbul ineinander verhakt sind.
  • Historische Daten zeigen, dass das zu erwartende Beben eine Magnitude von 7,4 nicht übersteigen wird.

Im Falle eines Bebens zählt jede Sekunde, um kritische Infrastrukturen abzuschalten oder Brücken und Tunnel zu sperren.

In der Türkei kommt es immer wieder zu heftigen Erdbeben. Besonders Istanbul bereitet den Erdbebenforschern große Sorge. Die Metropole am Bosporus liegt nahe an der sogenannten Nordanatolischen Verwerfungszone, die unmittelbar vor den Toren der Stadt unterhalb des Marmara-Meeres verläuft. Dort staut sich Energie im Untergrund, weil sich Erdplatten ineinander verhaken und die Bewegung aufgehalten wird – so lange, bis ein großes Beben diese Energie freisetzt.

Wissenschaftler haben hochsensible Messgeräte zur Erfassung kleinster Bodenerschütterungen in mehreren 300 m tiefen Bohrungen rund um das östliche Marmara-Meer und auf der Insel Büyükada südlich von Istanbul installiert. Die Wissenschaftler erhoffen sich dadurch neue Einblicke in die physikalischen Prozesse, die in den Jahren vor und schließlich auch während und nach einem starken Erdbeben (Magnitude >7) wirken. Darüber hinaus sollen diese Messungen helfen, Erdbebenmodelle neu zu definieren und zu kalibrieren, um eine bessere Gefahrenabschätzung für die Stadt vornehmen zu können. Auf diese Weise wollen die Forschenden einen Beitrag zu Istanbuls Erdbeben-Frühwarnsystem leisten.

Herr Bohnhoff, warum ist die türkische Metropole Istanbul so stark durch ein Erdbeben gefährdet?

Prof. Bohnhoff: Es besteht Einigkeit unter den Experten, dass wir in naher Zukunft mit einem starken Erdbeben in unmittelbarer Nähe zur Stadt Istanbul rechnen müssen. Diese Abschätzung wird abgeleitet aus dem Auftreten von mehreren Starkbeben im Verlauf der Geschichte Istanbuls. Diese reicht mehrere tausend Jahre zurück und bietet damit im Vergleich zu vielen anderen erdbebengefährdeten Ballungszentren weltweit eine statistisch sehr solide Basis. Bekannt ist auch die andauernde Kontinentalverschiebung unterhalb des Marmara-Meeres und die Tatsache, dass direkt vor den Toren Istanbuls ein Bereich der Erdbebenzone liegt, der zurzeit keine seismische Aktivität zeigt und sehr wahrscheinlich komplett verhakt ist. Damit baut sich dort seit dem letzten Starkbeben der Region im Jahr 1766 Jahr für Jahr Spannung auf, die sich aller Voraussicht nach früher oder später in einem starken Erdbeben entladen wird.


Kann die Forschung die Frage beantworten, wann mit einem solchen schweren Erdbeben zu rechnen ist?

Prof. Bohnhoff: Vieles deutet darauf hin, dass dieser verhakte Bereich bereits kritisch geladen ist und sich in der letzten Phase des sogenannten seismischen Zyklus befindet. Wenn dann die Festigkeit des Gesteins an einer Stelle überschritten wird, baut sich die gesamte angestaute Energie innerhalb von Sekunden ruckartig ab und wird zu einen Verstatz beider Erdplatten um mehrere Meter führen. Die dabei entstehenden Erdbebenwellen stellen dann die eigentliche Gefahr für Gebäude, Infrastruktur und letztlich die örtliche Bevölkerung dar. Es ist also nicht die Frage des "ob", sondern die des "wie stark" und des "wann". Die Stärke können wir mittlerweile durch Analyse der regionalen Erdbeben im Verlauf der letzten 2.300 Jahre nach oben eingrenzen. Den Zeitpunkt des bevorstehenden Marmara-Bebens können wir allerdings trotz aller Forschung nach wie vor nicht vorhersagen.

In einer Studie schreiben Sie, dass ein künftiges Erdbeben in der Region Istanbul nicht stärker als die Magnitude 7,4 sein wird. Wie kommen Sie zu diesem Ergebnis?

Prof. Bohnhoff: Durch die lange Siedlungsgeschichte in Kleinasien und insbesondere im Raum Istanbul liegen umfängliche historische Aufzeichnungen über Erdbeben in der Region im Verlauf der vergangenen mindestens zwei Jahrtausende vor. Das ist für die meisten Erdbebenzonen der Erde nicht der Fall. Durch Analyse eines zusammengestellten Erdbebenkatalogs für die gesamte Nordanatolische Verwerfungszone wissen wir, dass es im östlichen Teil Erdbeben bis zur Stärke 8,0 gegeben hat, wohingegen es im nordwestlichen Teil der Region um das Marmara-Meer und Istanbul keine Erdbeben größer als 7,4 gegeben hat. Der Unterschied mag klein erscheinen, aber da es sich hierbei um ein logarithmisches Maß handelt, ist dies in Bezug auf die freigesetzte Energie ein großer Unterschied. Allerdings stellt ein Beben dieser Magnitude aufgrund der geringen Entfernung von nur 20 km zum historischen Stadtzentrum Istanbuls ein immenses Bedrohungspotenzial dar.

Wie genau sind die Prognosen, die Sie durch die Forschung treffen können?

Prof. Bohnhoff: In der Seismologie können wir heute relativ gut abschätzen, wo es zu Erdbeben kommen wird und wie stark diese sein werden. Im Fall der Marmara-Region handelt es sich um ein bis zu 140 Kilometer langes Segment der Verwerfung, dass zuletzt im Jahr 1766 ein großes Erdbeben produziert hat. Wenn man annimmt, dass die kontinentale Plattenverschiebung in dem Bereich – gemessen aus GPS-Daten – bei etwa 2 Zentimetern pro Jahr liegt, würde das im Maximalfall, bedeuten, dass sich über die vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte ein "Verschiebungs-Defizit" von bis zu 5 Metern aufgestaut hat. Das entspräche dann als Obergrenze etwa einer Erdbebenmagnitude von 7,5. Maximalfall bedeutet, dass sich die Verwerfung komplett verhakt.


Was wollen Sie mit Ihrer Forschungsarbeit noch herausfinden? Wo setzen Sie an?

Prof. Bohnhoff: Wir wissen heute, dass Teile der Verwerfungszone auch "kriechen" können. Die Platten gleiten also langsam aneinander vor, jedoch ohne Spannung aufzubauen. Dieser Prozess würde dann die insgesamt aufgestaute Energie etwas reduzieren. Eines unserer Hauptziele der laufenden Forschung ist, diese Vorgänge besser einzugrenzen. Im Rahmen des Forschungsprojekts GONAF haben wir in den letzten Jahren ein bohrlochgestütztes Erdbebenobservatorium rund um das östliche Marmara-Meer errichtet. Die daraus erzielten Messergebnisse erlauben uns ein wesentlich feineres Abbild der zurzeit ablaufenden Prozesse in mehreren Kilometern Tiefe zu erstellen, die wir sonst nicht erfassen könnten. Auf diese Weise wollen wir einen Beitrag zu einem Erdbeben-Frühwarnsystem und einer verbesserten Erdbebenfrüherkennung für Istanbul leisten.

Gegenwart und Zukunft von Frühwarnsystemen für Erdbeben

Neue Sensorensysteme mit hohen Rechenkapazitäten können wirksam in regionale Systeme integriert werden. Private Haushalte und Betriebe sollen zukünftig auch diese Einzelsensoren erwerben können, um sich direkt an der Frühwarnung zu beteiligen.

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Mit dem Glasfaserkabel Erdbeben erfassen

Durch das Verfahren des 'Distributed Acoustic Sensing' könnten weltweit Glasfasernetze genutzt werden, um Erdbeben zu erfassen und metergenau zu lokalisieren. Dies wäre eine kostengünstige Alternative gegenüber bisherigen Methoden, bei denen komplexe Seismometer-Netze verwendet werden. Zudem haben die erfassten Daten eine hohe Qualität.

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Kann man einen Zeitrahmen benennen, in dem ein Beben in der Region Istanbul stattfinden könnte?

Prof. Bohnhoff: Um den Zeitrahmen, in dem ein Erdbeben bevorsteht, besser einschätzen zu können, gibt man heute Wahrscheinlichkeiten an. Für das Marmara-Erdbeben lag dieser Wert im Jahr 2004 bei 35–70 Prozent für ein Erdbeben der Magnitude 7 oder größer für einen Zeitraum von 30 Jahren laut einer Berechnung des Kollegen Tom Parsons vom Amerikanischen Geologischen Dienst USGS. Mittlerweile dürfte dieser Wert also bereits etwas höher sein. Die genaue Zeit eines Erdbebens kann man aber mit heutigem Erkenntnisstand nicht vorhersagen. Aber es ist durchaus möglich, dass wir bis zum Jahr 2025 mit einem schweren Beben rechnen müssen.

Kann man etwas zum Verlauf eines solchen Bebens sagen?

Prof. Bohnhoff: Wir haben mit unseren Forschungsdaten einen neuen hochpräzisen Seismizitätskatalog für die gesamte Marmara-Region erarbeitet, in dem wir die Messdaten aus unserem Plattenrandobservatorium mit den Messdaten unserer türkischen Kollegen kombiniert haben. Damit konnten wir unter Anderem kleine wiederkehrende Beben unterhalb des westlichen Marmara-Meeres identifizieren, sogenannte seismische ‚repeater‘. Die Ergebnisse weisen darauf hin, die beiden Erdplatten dort partiell aneinander vorbeigleiten. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass das nächste große Beben seinen Ursprung eher unterhalb des östlichen Marmara-Meeres direkt vor Istanbul nehmen wird. Die Bruchausbreitung würde dann primär in westlicher Richtung verlaufen, also von der Stadt weg. Das ist prinzipiell eine gute Nachricht. Allerdings werden wir für diesen Fall mit einer erheblich kürzeren Frühwarnzeit von nur wenigen Sekunden zu rechnen haben. Im Falle eines Bebens zählt aber jede Sekunde, um beispielsweise kritische Infrastrukturen abzuschalten oder Brücken und Tunnel zu sperren.


Gibt es Schutz vor einem solchen Beben? Welche Rolle spielt der Untergrund?

Prof. Bohnhoff: Generell gilt, dass der beste Schutz vor Erdbeben in einer sicheren Bauweise liegt. In Bezug auf die zu erwartenden Schäden macht es generell zunächst einen großen Unterschied, auf welchem Untergrund Gebäude errichtet werden. Grundsätzlich gilt: Je fester desto besser. Am besten ist es, wenn der Untergrund aus Granit besteht. Anders ist es, wenn der Untergrund aus trockengelegten Sedimenten wie Sand oder Ton besteht oder wenn die Stadt in einer Lagune liegt. Auf weichem Untergrund kann es zu starken Verstärkungen der Bodenbewegungen kommen, teilweise zusammen mit Verflüssigungseffekten, der sogenannten „liquefaction“. Der Mechanismus ist vergleichbar mit feuchtem Sand am Strand, wenn man dort wiederholt auf dieselbe Stelle tippt. Dann sammelt sich an dieser Stelle Wasser und der Untergrund wird instabil.


Gibt es diese schwierigen Untergründe auch in Istanbul?

Prof. Bohnhoff: Der südwestliche Teil Istanbuls liegt nun leider gerade auf so einer ausgetrockneten Lagune. Dort sind Verstärkungseffekte vermutlich am größten. In diesem Gebiet liegt beispielsweise aktuell auch der internationale Flughafen. Kommt es hier zu Schäden, könnte dies im Falle eines Bebens auch das Einfliegen von Rettungskräften erschweren.


Vielen Dank für das Gespräch

Die Fragen stellte Oliver Jorzik (ESKP).
April 2018

Quellen

  • Bohnhoff, M., Wollin, C., Domigall, D., Küperkoch, L., Martínez-Garzón, P., Kwiatek, G., Dresen, G. & Malin, P. (2017). Repeating Marmara Sea earthquakes: indication for fault creep. Geophysical Journal International, 210(1), 332-339. doi:10.1093/gji/ggx16

Weiterführende Informationen

  • Lühr, B.-G., Milkereit, C., Parolai, S., Picozzi, M., Woith, H., Strollo, A., Erdik, M., Ansal, A. & Zschau, J. (2011). Sekunden für Istanbul: Vorhersage der Erdbeben-Bodenbewegung. System Erde, 1(1), 18-23. doi:10.2312/GFZ.syserde.01.01.3